Tatort Nicolaiplatz – Mitten in der Stadt
Straßenbahnen klingeln, an den Ampeln stauen sich Autos, vor der Stadtverwaltung stehen Menschen in einer Schlange und warten auf ihre Bürgeramtstermine. Der Nicolaiplatz in Brandenburg an der Havel ist ein belebter Ort und er war es auch schon vor 83 Jahren. Deshalb ist es schwierig, sich vorzustellen, dass sich hier, mitten in der Stadt, der Tatort eines Massenmordes befindet. Vom 1. Februar bis zum 28. Oktober 1940 töteten die Ärzte der nationalsozialistischen “Aktion T4” am Nicolaiplatz über 9.000 Menschen. Mit Bussen der Reichspost wurden die Opfer auf das Gelände des ehemaligen “Alten Zuchthauses” am Nicolaiplatz gefahren, in eine Gaskammer geführt und dort ermordet. Die Männer, Frauen und Kinder stammten aus psychiatrischen Kliniken und Pflegeeinrichtungen aus dem gesamten nordostdeutschen Raum. Einer von ihnen war Paul Goesch.
Ein Ort zum Gedenken
Heute befindet sich am Ort dieses Verbrechens die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde. Zwischen grau gekiesten Flächen markieren niedrige Backsteinmauern die ehemaligen Standorte von Gaskammer und Krematorium. Auf dem angrenzenden Parkplatz stellen diejenigen ihre Autos ab, die zum Einkaufen oder Arbeiten in die Altstadt möchten. Daneben steht ein niedriges graues Gebäude – die ehemalige Gefängnisküche – in dem seit 2012 eine kleine Dauerausstellung zu sehen ist. In der benachbarten Stadtverwaltung sind Büros und Seminarräume der Gedenkstätte untergebracht. Zurzeit besteht unser Team aus sieben Personen, unterstützt von freien und studentischen Mitarbeitenden, einem Gastwissenschaftler sowie den Guides der Lebenshilfe. Gemeinsam wollen wir nicht nur an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern, sondern vor allem an die Menschen, die hier ermordet wurden. Denn die geplante Auslöschung ihrer Geschichten, war Teil der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.
Warum wir an Paul Goesch erinnern
Mit unserem aktuellen Projekt stellen wir den Künstler Paul Goesch in den Vordergrund. Der Grund hierfür ist nicht seine Prominenz, sondern der Umfang des überlieferten Quellenmaterials. Zusammen mit den über 1000 erhaltenen Kunstwerken lässt sich aus Familienerinnerungen, Fotos und Krankenakten eine Lebensgeschichte rekonstruieren. Paul Goesch war viel mehr als Psychiatriepatient oder Künstler: Er pflegte Beziehungen und Interessen. In seiner Kunst spiegeln sich tiefreligiöse Empfindungen und Erfahrungen, die er selbst als Hochschönheitserlebnisse beschreibt. Gleichzeitig musste er mit verwirrenden psychischen Eindrücken leben. Goeschs Leben kannte Höhen und Tiefen. Kurz: Er war Mensch. So, wie über 9.000 andere, die die Nationalsozialisten am Nicolaiplatz ermordeten.