Der Bus kommt
Im Sommer 1940 erfährt Paul Goesch, dass er Teupitz verlassen wird. Gemeinsam mit 29 anderen Männern aus der Landesheil- und Pflegeanstalt soll er in eine andere Anstalt gebracht werden. Grund sei der Krieg, sagt man ihnen. Am 22. August fährt ein Bus vor. Es ist ein ganz normaler Omnibus der Reichspost, grau gestrichen zwar und mit blau übermalten Scheiben, aber in Kriegszeiten ist man an einen solchen Anblick gewöhnt. Die Patienten steigen ein, im Bus befinden sich bereits Pfleger:innen, die sie begleiten werden.
“Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a.H.”
Auch wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Gerüchte im Umlauf sind, weiß Paul Goesch vermutlich nicht, was es mit seiner Verlegung tatsächlich auf sich hat. Die “Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a.H.”, in die er gebracht werden soll, ist keine Klinik. Es handelt sich in Wirklichkeit um eine der fünf Tötungsanstalten, die die Nationalsozialist:innen Ende 1939 im Deutschen Reich eingerichtet haben. Betrieben werden sie von der „Organisation T4“, einer geheimen Abteilung der Kanzlei des Führers.
Die Aktion T4
Schon lange haben die Nationalsozialist:innen die Ermordung von Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht sind, geplant. Ein Teil der Ärzt:innen und Jurist:innen hatte schon vor 1933 vorgeschlagen, Menschen, deren Erbgut sie als minderwertig betrachteten, zu töten. Jetzt, zu Beginn des Krieges im September 1939, will man sich der „unnützen Esser“ endlich entledigen. Der erste Schritt ist die Erfassung aller Anstaltspatient:innen im Reich durch ein Meldebogenverfahren. In der Tiergartenstraße 4 in Berlin sitzen ärztliche Gutachter an ihren Schreibtischen und fällen Entscheidungen über Leben und Tod. Ab Februar 1940 rollen die Busse, die über ein Tarnunternehmen von der Reichspost gemietet werden. Ihr Ziel sind die Tötungsanstalten in Hadamar, Pirna, Grafeneck, Hartheim, Bernburg und Brandenburg an der Havel.
In Brandenburg an der Havel ermordet
Als Paul Goesch in Teupitz den Omnibus besteigt, kennt man die grauen Busse dort schon. Bereits im April und Juni waren Patient:innen abgeholt worden. Etwa zwei bis drei Stunden dauert die Fahrt über die frisch fertig gestellte Reichsautobahn. Durch ein Tor fährt der Bus direkt auf das Gelände der „Landes-Pflegeanstalt“ am Brandenburger Nicolaiplatz. Es ist keine Klinik, sondern ein ehemaliges Gefängnis. Über zwei Innenhöfe rollt der Bus zur ehemaligen Scheune des Zuchthauses, in die Paul Goesch nun gemeinsam mit den anderen Patienten geführt wird. In einem Vorraum müssen sie sich entkleiden und werden ein letztes Mal von einem Arzt begutachtet, der eine fiktive Todesursache festlegt. Danach sollen sie sich in einen kleinen, weiß gekachelten Raum begeben, von dem die Pfleger:innen sagen, es sei ein Inhalationsraum. Hinter ihnen wird die schwere Tür von außen verschlossen. Der Inhalationsraum ist in Wahrheit eine Gaskammer.
“An einer Lungenentzündung verstorben […]”
Am 23. September 1940 erreicht die Angehörigen Paul Goeschs ein Schreiben, in welchem ihnen mitgeteilt wird, dass der Regierungsbaumeister a.D. Paul Goesch auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars in die Landesanstalt Hartheim bei Linz verlegt worden und dort am 5. September an einer Lungenentzündung verstorben sei. Die Verschleierung von Tag, Ort und Ursache des Todes ist Teil der Strategie der Nationalsozialist:innen. Erst Jahrzehnte später erfährt die Familie das wahre Todesdatum und den Tötungsort.